Galerie Mezzanin

NIVEA gehört für Gerald Domenig zu den Äpfeln. Das hat er uns am 4. Dezember 2003 in der Schneckenhofstraße deutlich vor Augen geführt.[1] Etliche der 600 Dias, die er uns unter dem Titel „Melodrom“ projizierte, zeigten nicht wie angekündigt Äpfel, sondern neben noch zulässigen Apfelabweichungen wie Orangen, Zitronen, Birnen und Kürbissen auch Nivea-Variationen. Nicht daß er zu wenige Äpfel fotografiert hätte, ganz im Gegenteil, angeblich hält er fast tausend Dias mit dem Apfelmotiv vorführbereit, und natürlich weiß er, daß man Nivea Creme nicht essen kann, so appetitlich sie auf einem achteckigen Teller aussehen mag, garniert mit Beeren und Früchten. Er weiß natürlich auch, daß man Nivea essen könnte, daß sie wahrscheinlich nicht schmeckt und unbekömmlich ist, zumindest verglichen mit einem Apfel. Das Ergebnis eines Vergleichs von Apfelportrait und Niveadosenbild fällt nicht so eindeutig aus: Beide zeigen runde Dinge. Nicht jedem Betrachter gilt das perfekte Kreisrund der Nivea als das schönere, andererseits kann nicht jedermann in einem Apfelstilleben unsere sogenannte komplexe moderne Welt abgebildet sehen. Dennoch, das Apfel- neben dem Niveamotiv in der Bilderreihe ist im Unterschied zu Apfel neben Nivea auf dem Küchentisch ganz unproblematisch.

 

Also, wenn er will, kann der Domenig eine Niveadose von einem Apfel ganz gut unterscheiden. In der Kunst kommt es auf das Unterscheidenkönnen von Feinheiten an, ja man könnte sagen, die Kunst sei geradezu die Spielwiese des Unterscheidens, des Kritisierens. Wenn Domenig so unbedingt die Verfremdung des einen ins andere betreibt, dann ist das wohl aus dem Wunsch nach seiner eigenen Verwandlung in einen Baum verständlich. Aus einer an die Wand genagelten Niveadose liest er jedenfalls einen Apfel heraus, Nagel quasi Stengel. Umgekehrt kann der assoziierte Apfel in die Dose wieder hineingestopft werden, zurückgefüttert. Die Dose, die ich hier anspreche, hat Gerald Domenig einmal mit einem einzigen Schlag des Hammers zu dem so charakteristischen Maul- bzw. Schnabelaufreißen animiert, Donald Duck quasi, daß er selbst ganz begeistert sich die Kleinplastik an die Wand nagelte, wo er sie seitdem immer wieder einmal fotografiert, sich selbst im Profil gleich mit. Der Schnabel befindet sich auf seiner Nasenhöhe.

 

Wenn er einen Auftrag hat, z.B. einen anspruchsvollen Auftrag für eine CD-Hüllen-Gestaltung, und zwei Tage vor dem Abgabetermin noch keine zündende Idee, dann nimmt er das blaue Ding von der Wand und holt ein kompatibles Objekt dazu, weil er ungern ein Objekt allein fotografiert. Eine Einzelobjektfotografie könnte leicht den Eindruck entstehen lassen, das Objekt sei gemeint. Er will aber nicht das Objekt meinen. Gemeint haben. Außerdem nutzt ein Apfel, oder eine Niveadose, das 2:3 Format des Kleinbilds nicht gut aus. Er holt also eine kaputte Teeschale dazu und fotografiert zwei Stunden lang Kombinations- und Perspektivvarianten.

 

Mein erster Eindruck von Domenigs Nivea-Variationen war, wie Sie sich vorstellen können, ein zwiespältiger. Wie sie wissen, machen wir bei Beiersdorf viel Reklame. Traditionell hat diese zwei Pole: unser Produkt, die blaue Dose, und das Gesicht. Es ist nicht so, daß wir Nivea produzieren, um einen Vorwand für Reklame zu haben. Obwohl es mir manchmal so vorkommt. Jedenfalls habe ich viel Freude damit. Das Bild, das ich mir von Nivea mache, ist mir wichtiger als das Produkt. Darin bin ich, und ich bilde mir ein, sagen zu dürfen, sind wir alle bei Beiersdorf dem Künstler Gerald Domenig ähnlich. In der Werbung übertreiben wir maßlos. Denken Sie nur an die Gesichter junger Frauen, die unsere Kunden mit Nivea verwechseln. Nivea ist unsichtbar. Ich weiß, daß es keine eindeutigen Bilder gibt, aber verglichen mit Gerald Domenigs hier ausgestellten Fotografien ist Nivea-Reklame pure Eindeutigkeit. Wenn Sie, wie ich annehmen, die FAZ lesen, dann wissen Sie, daß unser Umsatz ständig steigt. Wenn man für die Werbung verantwortlich ist, kommt man auf komische Gedanken: Steigt der Umsatz wegen oder trotz der Werbung? Mein erster Eindruck von diesen Fotografien war wie gesagt zwiespältig: toll, aber nicht für Werbezwecke geeignet. Heute weiß ich es besser, abgesehen davon, daß sich auch die Bedingungen für künstlerische Werbung verbessert haben. Und dann hat mir noch ein Satz Gerald Domenigs geholfen: Ein Kunstwerk muß nicht sexy, es muß reich sein. Und geheimnisvoll, hat er hinzugefügt. Und dann hat er noch gesagt, was man über ein Werk wisse, sei ein Fragepotential, nicht das Geheimnis. Das Geheimnis eines Werkes könne nicht verraten werden wie das Rezept für Coca Cola. Und wie überall stünden auch in diesem Fall hinter jeder Antwort neue Fragen. Das zentrale Vehikel in den hier ausgestellten Fotografien ist eine Art Donald Duck. Es entstand durch einen Schlag mit dem Hammer auf den Rand der Dose. So ein Schlag gelingt einmal und nicht wieder. Ich habe es (mangels leerer Dosen) nicht probiert, aber Gerald Domenig hat nach eigenem Bekunden nach mehreren erfolglosen Versuchen den Plan aufgegeben, eine kleine Serie, eine Auflage zu kommerziellen Zwecken zu produzieren. Nach dem ersten glücklichen, zufälligen Erfolg habe er nur noch Ausschuß produziert, Blechmüll. Jetzt könnte man sagen, was soll´s, jemand haut mit dem Hammer auf eine Blechdose und es gibt ein unerwartetes Ergebnis. Quasi Glück sozusagen. Und schon wäre man in die Falle getappt und hätte eine Frage nicht gestellt: Warum hat er mit dem Hammer auf die Niveadose gehauen? Ein schönes Beispiel für eine Frage, für die es wichtiger ist, überhaupt gestellt worden zu sein als beantwortet zu werden. Gerald Domenig hat sie sich selbst gestellt, weil er sie nicht beantworten konnte. Wenn der Künstler Gerald Domenig hier stünde, um seine Ausstellung zu kommentieren, er spräche gewiß von der Schönheit der Fotografie und den schönen Fragen, die sie aufwerfe. Mir scheint, er liebt die Schönheit der Fotografie noch mehr als die Fragen. Aber vielleicht muß man die Fragen auch nicht lieben. Wir von Nivea sind dankbar für die Fragen, mit denen uns Ausstellungen wie diese konfrontieren. Fotografie wirft Fragen auf. Klingt wie „Daum wirft Handtuch“, nicht? Stellen Sie sich den Satz „Fotografie wirft Fragen auf“ als Schlagzeile vor, anstelle von … (aktuelle Schlagzeile), unvorstellbar, nicht? Was bedeutet das? Was bedeutet es, daß man der Fotografie mit dem Wort Scheincharakter Genüge getan zu haben glaubt? Eine Gesellschaft, der die Schlagzeile „Fotografie wirft Fragen auf“ unvorstellbar ist, lebt in einer Scheinwelt. Eine „Mediengesellschaft“, die ihre Medien nicht reflektiert, lebt in einer Scheinwelt. Schein ist nicht die Eigenschaft eines Objekts, und sei es einer Fotografie, sondern ungenügende Wahrnehmung. Quasi nicht hingeguckt. Ich glaube nicht, daß man einem Einzelwerk Gerald Domenigs ansehen kann, ob es aus einer Idee entstanden ist – quasi Konzeptkunst, was bei ihm ja selten vorkommt – oder ob es sich um „intuitive sculptur“ im Sinne Allan McCollums handelt, wofür die demolierten Niveadosen gute Beispiele sind. Auch die simulierte Kollision mit Korken läßt sich als Verlegenheitswerk entschlüsseln. Seit ein paar Jahren trägt die Niveadose hierzulande zusätzlich zu ihrem Namen noch die Information „ohne Konservierungsstoffe“. Domenig hätte Nivea lieber ohne diesen Zusatz, obwohl er für Widersprüche nicht unempfänglich ist. Kein Zusatz drin steht als Zusatz drauf. Er griff wieder zum Hammer, schlug diesmal mit der spitzen Seit, ein Loch in die Stelle des Aufdrucks, diesen quasi versteckend ins Loch der nicht vorhandenen Nivea Creme ohne Zusatzstoffe. Wie man sich denken kann, gelang ihm das nur halb. Nun muß man wissen, daß sein Atelier auch sein Spielzimmer ist, das heißt, das hätte man schon ahnen können, warum hätte er sonst überhaupt leere Niveadosen? In allen Ecken findet sich Kleinkram, den er auf der Straße gefunden, kleinen Kindern gestohlen oder auch billig gekauft hat. Darunter immer wieder Korken, offensichtlich die Korken geleerter Flaschen. Auf einen solchen muß sein Blick gefallen sein. Mit der Not kam die Lösung. Den Krater hatte er eben mit dem Hammer geschlagen, der Korken war die ideale Ergänzung. Er konnte damit das Loch im Krater verstecken und dem Krater selbst eine Legende geben: Korken fallen vom Himmel. Wo sie einschlagen, färbt sich die Erde blau. Den unglücklichen Aufdruck „ohne Konservierungsstoffe“ war er los, auf die grobe Art, und trotzdem würde man nichts merken. Man würde annehmen, Gerald Domenig hätte alles so geplant, wie es jetzt wirkte. Ich kenne den Künstler gut, nicht ist bei ihm so, wie es sein sollte, und wenn einmal doch, dann erzählt er gleich zwei gegensätzliche Geschichten.

Er kommt ja von der Reklame, wie er gern sagt, wo es einmal üblich war, ein Produkt nach mehreren Seiten hin aufzuladen. Es ist Ihnen vielleicht nicht bekannt, daß Domenig damals (mit Hofer und Stumpf) vorgeschlagen hat, Doppelwerbung zu machen, also für jeweils zwei Produkte gleichzeitig, und nicht etwa für Produkte, die aufeinander angewiesen sind wie Waschmaschine und Calgon, sondern für eher beziehungslose wie Nivea Creme und Milka Schokolade. Jetzt aufgepaßt! Warum, fragt der Künstler, soll Nivea Creme mit Milka Schokolade nichts zu tun haben? Ist nicht schon die Wahl des Partnerprodukts Beweis für eine Gemeinsamkeit, und sei es eine noch so kleine und versteckte? Man müsse bei der Betrachtung eines Sachverhalts nur offen sein für dessen mediale Facetten, konkrete oder auch mögliche. Wenn ein Weinglas umgestoßen wird, gibt es meistens ein Theaterstück. Das sei nicht schlimm, die Tischdecke müsse sowieso zur Reinigung. Man übersieht vielleicht den schönen Rotweinfleck, die informelle Malerei, und auch das leere Glas. Den dumpfen Klang hat man noch im Ohr. Endlich wird nachgeschenkt.

 

Da wir Nivea und Milka nicht zur Hand haben, halten wir uns an die Wörter, bei denen man wiederum zwischen gesprochenen und geschriebenen unterscheidet. Bei den geschriebenen sieht man sofort die Verwandtschaft von Nivea und Milka, jeweils fünf Buchstaben, der zweite ein i, der letzte ein a. Es ist auch ein Unterschied, ob ich Nivea und Milka oder Nivea Creme und Milka Schokolade sage. In letzterem Fall ist das Verbindende die Cremigkeit. Nivea und Milka sind wohl doch keine rein zufällige Kombination. Wem die Namensähnlichkeit nicht genügt, der soll sich Gerald Domenigs Fotografien ansehen, in denen Nivea und Milka eine starke Verbindung eingehen.

 

Anfang der achtziger Jahre flatterte uns von Domenig, Hofer und Stumpf (die hatten damals noch nicht einmal ein Gewerbe angemeldet) die Idee mit der Doppelwerbung auf den Tisch. Mit Nivea und Milka sollte der Grundstein für eine Firmenkarriere gelegt werden, von uns, von Beiersdorf finanziert, versteht sich, die das Trio vom Main schon bald in die Expansion treiben würde.

 

Zitat Stumpf: „Young & Rubicam übernehmen wir morgen.“

 

Ich fand die Idee für die Doppelkampagne toll, und aus heutiger Sicht sagt es sich noch leichter, daß wir dumm gewesen sind, nicht mitzumachen. Aber wer weiß, vielleicht gäbe es Nivea heute nicht mehr, wenn wir damals angefangen hätten, uns mit Schokolade zu vermischen.

In der Kampagne sollten die Erkennungsmerkmale von Nivea und Milka nach und nach vertauscht werden, Schriftzug, Farbe und Format, teilweise nur in der Werbung, also in Anzeigen, auf Plakaten und in Fernseh- und Rundfunkspots, aber wo produktionstechnisch möglich auch bei den Produkten selbst. Eine Milka in Niveablau einzuwickeln ist kein Problem, eine Charge zusätzlich mit der Nivea-Schrift auch nicht. Schokolade im Nivea-Dosen-Format wäre der Fotografie, der Werbung vorbehalten geblieben. Nivea wäre dafür oft blaßlila ins Haus gekommen, der Name vielleicht schnörkelig. Jeweils ein Produkt wäre stiller Gast des anderen gewesen oder, anders ausgedrückt, sein Sponsor. Warum sollten sich Nivea und Milka ihre Auftritte in der Kunst, pardon, Werbung, nicht gegenseitig sponsern?

 

Für Nivea hat Domenig noch einen anderen Partner vorgesehen, das Mineralwasser Evian, ein Anagramm von Nivea und wie diese der Assoziationssphäre der Reinheit zugehörig. Nivea scheint am Anfang, im Zentrum und am Ende von Domenigs Agenturarbeit zu stehen. Und am Anfang der Doppelwerbung stand nicht die Idee für Doppelwerbung, sondern die S/W-Fotografie einer Niveadose auf einer Delacre-Keksdose. Sie kennen sie vielleicht aus Domenigs Büchlein „Die gute Naht“, hier auf Seite 22. Domenig muß sich gedacht haben: Eine Fotografie habe ich schon, jetzt fehlt mir nur noch die Werbeagentur. Aus der Agentur ist nichts geworden, meiner Ansicht nach zu Recht. Jemand, der so rigoros Marktforschung ablehnt wie er, sollte, bei aller Liebe, keine Agentur aufmachen. Aber eben dieser Unfähigkeit zur Strategie verdanken wir seine neuesten Nivea-Variationen, eine Hochglanznummer frei von Unschuld und Bescheidenheit. Wäre Domenig in der Werbung erfolgreich gewesen, wer weiß, ob wir Nivea mit dem SPA Trinkglas jemals zu sehen bekommen hätten. Wer Weiß, ob er sich diese Brillanz erlaubt, oder, viel wahrscheinlicher, gegen die Tendenz der Branche gearbeitet hätte und den Rest seines Lebens mit grauen und nicht ganz so scharfen Fotografien zufrieden gewesen wäre. An diesem Punkt darf ich enden und mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.

 

/ Zwei 05

 

Den ersten Text, „Nivea gehört für Gerald Domenig zu den Äpfeln“, las der Autor (G.D.), vorgestellt als Herr Zwei, zur Einführung in die Ausstellung Nivea und Nivea in der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main am 15. Dezember 2005.

 

[1] Aus einem Apfel ein Bild zu machen, ist gleichzeitig leicht und schwer. Dafür, daß es leicht ist, spricht seine runde Form. Ein Bild ist ja um so mehr ein Bild, je mehr man gefangen ist, im Kreis gehen muß, sich in der Betrachtung wiederholt, ohne sich zu wiederholen. Der Apfel ist als Apfel schon ein Bild, ja erstaunlicherweise ist er als Apfel oft mehr Bild denn als Bildapfel. Wenn ich einen Apfel betrachte, begutachte ich ihn. Seine Umgebung ignoriere ich weitgehend. Ich habe gelernt, einen Apfel in die Hand zu nehmen, auf Faulstellen, Wurmigkeit, Frische und Schönheitsmale zu überprüfen, liegen zu lassen, wo er sich gerade befindet oder dorthin zu bringen, wo er besser und schöner ist. Nehmen wir an, ich halte einen Apfel in der Hand und begutachte ihn. Ich begutachte ihn auf jeden Fall, ob ich ihn nun essen oder fotografieren will. Ich mache mir ein Bild von ihm, das fast gänzlich das Bild seiner äußeren Erscheinung ist. Meine Hand sehe ich gar nicht, ich sehe nur die von der Umgebung abstrahierte kugelähnliche Gestalt. Im Bild, im konkreten Bild wird die Umgebung, die fotografische Behandlung der Umgebung um so wichtiger. Wo bricht die Schärfe ab oder wo liegt sie überhaupt, betont das Licht den Körper oder arbeitet es ihm entgegen, ist der rote Hintergrund in der Lage, sich in den Vordergrund zu drängen?