Galerie Mezzanin

Über Linien und Muster

Skizzen zu einer verlorenen Jugend und verblassenden Erinnerungen

 

Polen, im Sommer am Lande, Tee und Kuchen, „Sag bitte, „Danke“, Mutter, Großmutter, Freundinnen, „Burde“ Magazine, Schnitte, Muster, Modelle, Rüschen, Falten, Manschetten, Krägen, Boot- und Rundausschnitte, Lampionärmeln einfache Träume im herben Alltag des Realen Sozialismus. Wie jedes junge Mädchen, schwärmte auch Marzena in den frühen 80ern Jahren von bunten und hübschen Kleidern, die sie meist nur bei ihrer Mutter in importierten Magazinen aus der damaligen reichen DDR, sehen konnte.

 

An jenen kontemplativ durchlebten Spätnachmittagen ließ sie ihre sehnsüchtigen Blicke in die imaginären Schaufenster der Welt, des Luxus und der Mode werfen. Die polnische Textilindustrie hatte wenig anzubieten, jedenfalls nichts für den polnischen Markt. Gegen das Graue und dem Mangel des Alltags rebellierten die Frauen mit ihrer Phantasie und ihren Träumen.

 

Es sind Erinnerungen ihrer Kindheit Musterschnitte und Designs von Stoffteilen, die Marzena Nowak in komplizierte, abstrakte Liniengeflechte auf überdimensionale Leinwände überträgt. Durch das Nachziehen und Neuziehen einfacher Linien, deren Vermengen und Verflechten kreiert sie neue Gestaltkonfigurationen zwischen Geometrie und Chaos, grenzenlose Linienkombinationen, die sich unter dem entlang wandernden Auge alsbald zum Figürlichen verdichten, um sich infolge wieder im Unkenntlichen und Unfassbaren auflösen.

 

Der Künstlerische Prozess in Marzena Nowaks Arbeit ist ein ständiges „Suchen der Linie“, ein Versuch, Formen zu erfassen, um sie sogleich wieder zu verwerfen, sie zu einem Ganzen zu Verbinden, um sie alsgleich in ihre Fragmente aufzulösen. Mit ihren Geflechten verfolgt sie Erinnerungsspuren, in denen vergangene Lebensmomente zwischen inniger Zugehörigkeit und kühler Distanz nach klingen. Unter der Folie familiärer Geborgenheit und Nähe lauerte bereits das Gespenst familiärer Langeweile und adoleszentem Aufbegehrens, das sich in der Ordnungssukzession und –destruktion der großen Dimension niederschlägt. Mit Hilfe von Pauspapier überträgt Marzena Nowak Fragmente einer Sprache des Alltags in die Sphäre der künstlerischen Ausfaltung. Vorlage für ihre Arbeiten sind die Musterschnitte von Modeheften, sind Sprachcodes der „Burda“ Leserinnen. Ihre visuelle Sprache ist die Sprache die Schneider und Mütter.

 

Was in gebührendem Abstand an die abstrakte Liniengebung der revolutionären russischen Konstruktivisten erinnert, erscheint aus der Nähe als Kartographien und Topografien zwischen geographischen Markierungen und häuslicher Spurensuche. Mit geradezu pedantischer Akribie bearbeitet Marzena Nowak die Nahaufnahmen einfacher Muster. Dabei ziehen Marzena Nowaks Arbeiten unsweren Blick in ein Flechtwerk aus immer neuen Linienkonnexen und dekonnexen in ein „Netz der Zeichnen“ um mit Ricouer zu sprechen, indem sie jedoch immer wieder die für das Verständnis von Modeschnitten notwendigen sprachlichen und linearen Verbindungen weglässt, beziehungsweise verändert, verlässt sie die Ebene von Bedeutung und Deutbarkeit. Ihre künstlerischen Bemühungen führen sie so „ins Chaos hinein“, das mit Gombrowicz „der Anfang der Ordnung“ ist[1].

 

Eine Ordnung, deren Kern visuell-sprachliche Codes markieren. Die Sprache ist dabei Vermittlung unserer Existenz als ein Sein-  in –der Welt, sie ist das „Medium“ oder „jenes Mittel, in dem und durch das sich das Subjekt setzt und sich in der Welt zeigt“, schreibt Ricouer[2]. Marzena Nowak verwendet die Sprache ihrer Kindheit, ihre Erinnerungen werden als Kommunikationsmittel eingesetzt und gleichzeitig außer Kraft gesetzt. Ihre Linien und Muster sind ihr selbst längst unverständlich und zusammenhanglos geworden. In der Such und Zerstörung von Form offenbart sich nicht wenig Melancholie über die entsetzliche Zusammenhangslosigkeit der Welt und die Einsamkeit als unerträgliche und unaufhebbar Seinsgewissheit. In ihren Arbeiten, den Musterschnitten auf Leinwand wird das Leben so zum Schnittpunkt und das Musterschnitt zur abstrakten Chiffre im Raum des „heillosen Begehrens“. Ich und ich und die Wirklichkeit.

 

Wenn Wittgenstein in den Grenzen der Sprache, die Grenzen der Welt sieht[3], dann lässt Marzena Nowak die Grenzen ihrer Sprache und ihrer Erinnerungen längst hinter sich gelassen und ihre Jugend und deren Träume verloren.

 

Nach Gombrowicz ist eine der charakteristischen Eigenschaften des Menschen seine permanente Neigung „sich zu formen“. Gewohnt sich den Konventionen zu fügen, um gesellschaftliche Akzeptanz zu gewinnen, legt sich der Mensch Masken an, akzeptiert er die moralischen und ästhetischen Forderungen der „äußeren“ Welt. Es ist die Welt, die „Ordnung“ schafft, die das Leben und Handeln formiert. Es die alltägliche Welt, die Welt der Wiederholungen, des Immergleichen, der Bräuche und Rituale, es ist die Welt der Gewohnheiten, die das Unerwartete und das Neue fern hält, eine Welt, die Marzena Nowak nicht nur in ihren Musterschnitten, sondern auch in ihren Videos mit denen repetitiven Schemata anspricht und gleichzeitig verwirft. Dagegen steht die „Innere Welt“ des Menschen, die sich auflehnt, die die „äußere Welt“ und ihre Ordnung durch seine Empfindsamkeiten, seine Überlappen der beiden Welten, die in der Dialektik zwischen Formwerdung und Formaufhebung ihren Ausdruck findet. Es ist der Stoff, aus dem sich Marzena Nowak ihre künstlerischen Zwischenwelten schafft, hybride, poetische Gebilde zwischen Chaos und Ordnung, Innen und Außen, Erinnern und Vergessen, Mikro- und Makrokosmos.

 

Was du siehst, ist nicht, was du siehst, weil du nur siehst, an was du dich erinnerst. Und erst, wenn du dich nicht mehr erinnerst, siehst du, was da ist und was du zuvor nicht gesehen hast. Wenn du nichts mehr siehst, dann bleibt dir das Tasten und du tastest, was du gesehen hast.

 

Der Skepsis von Marzena Nowak gegenüber der Welt und deren Konventionen entspricht ihr Misstrauen gegenüber den sinnlichen Möglichkeiten der Welterfahrung durch das Sehvermögen. So rekonstruiert das Video „Auge“ einen Traum der Künstlerin aus der Kindheit, in dem eine alte Frau versucht mit einer Häkelnadel die Augenlinse eines kleinen Mädchens zu entfernen. Das Auge als zentrales Organ der Weltperzeption ist untauglich geworden. In Abwandlung der emblematischen Buńuel΄schen Urszene widerspricht Marzena Nowak der Auratisierung der Blicke. Doch das Auge wird nicht zerstört, sondern geschält. Das Auge ist ein Auge ist ein Auge, nicht mehr und nicht weniger.

 

Marzena Nowak entwirft so existenzielle Dimensionen in transitorischen Zonen zwischen Banalität, Absurdität, Erinnerung und Ekstase.

 

Katarzyna Uszynska

 

 

 

[1] Gombrowicz, Witold: Dziennik 1961-1966, Dziela, t.IX, WL, Kraków 1989, s. 141

[2] Ricoeur, Paul: Le conflit des interpretétations. Paris 1969, s.108

[3] Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main 1960, s. 64, Pkt. 5, 6.