Galerie Mezzanin

Die „westliche“ Entsprechung der „östlichen“ Meditation war über lange Zeiten das Gebet. Seine Formen reichen von tiefster Inbrunst bis zu literarischer Winkeladvokatie – im Hader mit Gott. – Im Halbdunkel der Kirche sitzen alte Frauen und beten den Rosenkranz. Dicht gedrängt – auf Bänken – murmeln sie wie ein unheimlicher Bach. Sind sie summender, kollektiver Leib, der – endlos langsam – Kugel für Kugel durch seine Hände bewegt. Sie arbeiten am großen „Geweb“ und murmeln und weben stundenlang.

(das hatte ich fast vergessen)

Im rasenden Lärm einer Fabrikhalle – der Weberei Gutmann in Göppingen – kam das Gemurmel der Frauen im Sing-Sang der Maschinen auf mich zurück. Die Kurbelwellen der Webautomaten sangen bei einer bestimmten Frequenz „menschlich“. Wie 2 Kupplungsscheiben gingen die Gesänge aufeinander zu und schlossen sich kurz. So kamen die Stimmen von Innen heraus … das Gemurmel als Bässe verschmolz mit dem jammernden Metall zu einer Einheit. So singsang ich die Stunden und Tage durch – und konnte 1 Jahr überwintern. – Auch in den Discos – oder beim Autofahr’n – schlich dieser geheime Sing-Sang mit … als wären die Frauen tief im Getriebe eingeschlossen und drängten durch die Vibration nach außen. Oder als Unwucht der Reifen – die begreifen – dass – VA TER UN SER DER DU BIST IM HIM MEL als Profil in ihnen steckt – und während sie rasen – sie beten … auf 300 km … 1.244.000 mal.

19.02.1987

Thomas Bayrle