Was passiert wenn Künstler eine Inspiration haben? Schöpfen sie ihre Werke aus den Tiefen ihres Wesens? Der Kunstkritiker John Berger erteilte derart genialischen Vorstellungen vom Kunstschaffen jüngst in einem Interview in der Neuen Zürcher Zeitung eine herbe Absage. Er verglich den Autor mit einem Postboten, denn es gehe doch gerade nicht darum Geschichten zu erfinden, da man schließlich fortwährend von Geschichte(n) umgeben ist. Diese zu beobachten und aufzugreifen und sie ohne Beschädigungen an den Leser weiterzugeben, darin liege die Aufgabe.
Viele Arbeiten des Künstlers Christian Mayer nehmen eine vergleichbare Haltung ein und greifen auf historische Darstellungen zurück. Wie etwa »Gizmo« (2009), einer Videoarbeit aus Filmmaterial, das der Künstler in den Archiven des Berliner Rundfunks fand. Es dokumentiert 1968 im Studio des Senders Freies Berlin ein Experiment von Ted Serios, einem Hotelangestellten aus Chicago, der in den 60er Jahren mit seinen »Thoughtographs« (in etwa: Gedankenfotos) in den USA bekannt geworden ist. Die Fotografien entstanden meist in Zusammenarbeit mit seinem Förderer, dem Psychoanalytiker Jule Eisenbud, und oft in stark alkoholisiertem Zustand. Dabei konzentrierte sich Serios darauf, nur mit Hilfe seiner mentalen Fähigkeiten ein Bild auf dem Film einer Polaroidkamera zu belichten. Sein einziges Hilfsmittel war das »Gizmo« (in etwa: Dingsbums), ein zu einem Zylinder zusammengerolltes Stück Fotopapier. Für die Fotografien, die an verzerrte, unterbelichtete, verwischte Ausschnitte von Postkartenmotiven weit entfernter Orte erinnern, war der ebenso schnelle, wie hermetische, keine Eingriffe zulassende Entwicklungsprozess des Polaroidfilms wichtig, denn dadurch fielen sowohl die Bestätigung des Realitätsgehalts von Serios’ Behauptungen, wie auch das Zeugnis des Übernatürlichen zusammen. Im erwähnten Video sieht man eine geloopte Sequenz von Serios mit verzerrtem Gesicht, wie unter Schmerzen, mit seinem Gizmo ruckartig vor der Kameralinse herum- fuchteln, bis er nach wenigen Minuten ohne Erfolg aufgibt.
Das dritte Gesetz des Science-Fiction-Autors Arthur C. Clarke, wonach jede hinreichend fortschrittliche Technologie von Magie nicht zu unterscheiden ist, gilt insbesondere für die Fotografie, und in noch größerem Maße für Polaroidaufnah- men, wo das Bild praktisch aus dem Nichts erscheint. In einer Zeit aber, in der Polaroidkameras zugunsten von Digitalkame- ras verschwinden, scheint auch der Umkehrschluss zulässig: kaum sind sie aus dem Alltag verschwunden, erscheinen die obsoleten Technologien wieder voller Magie, egal ob es dabei um Fotos geht oder um Porzellan, das als Abfallprodukt von alchemistischen Experimenten, unedles Metall in Gold zu verwandeln, gilt. Darüber informiert die Arbeit »Black Basalt« (2009), die sich auf den Namen einer Geschirrlinie der weltbekannten Keramikfirma Wedgwood bezieht. Josiah Wedgwood, der Gründer der Firma und Protagonist der Industrialisierung des Töpferhandwerks schlechthin, entwickelte im 18. Jahrhundert das besonders feinkörnige schwarze Steinzeug, angeblich so widerstandsfähig wie Basalt. Er orientierte sich dabei an der Oberflächenbeschaffenheit damals gerade entdeckter etruskischer Vasen, verzichtete entgegen dem Zeitgeschmack auf üppiges Dekor und setzte auf elegante, einfache Formen, weil sie industriell leichter herzustellen waren.
Sein Sohn Thomas war ein wichtiger Pionier der Fotografie, und wohl der erste, dem es gelang, mit Sonnenlicht fotografi- sche Bilder auf mit Silbernitrat beschichtetem Leder und Papier zu erzeugen. Seine 1802 in einem Artikel veröffentlichten Beschreibungen dienten Mayer als Anleitung, selbst einige die- ser von Wedgwood »sun pictures« genannten Bilder zu produ- zieren. Da dieser Entwicklungsprozess nur sehr schwer zu steu- ern ist, glich am Ende aber kein Bild dem anderen. Als Motiv diente ihm eine Auswahl der Wedgwood Objekte aus der Sammlung des Keramikmuseums Düsseldorf, wo sie gemeinsam mit den »sun pictures« ausgestellt wurden.
Charles Darwin war wiederum ein Enkel des Firmengründers und wohl nur dadurch, dass er innerhalb der Familie hei- ratete, überhaupt dazu in der Lage, seine Forschungen zu finanzieren, die das Bild des Menschen grundsätzlich revolutionierten. Die Ausstellung von Christian Mayer 2009 fiel mit der Insolvenz der Firma Wedgwood zusammen, während gleichzeitig weltweit der zweihundertste Geburtstag Darwins gefeiert wurde. Anlass für den Künstler sich auf den Weg zu machen, um im englischen Stoke-on-Trent nach Verbindungen zwischen Darwin und dessen Großvater zu suchen, die sich in dem trostlosen Städtchen nur in Form eher kitschiger Souvenirs finden ließen. »Befindet man sich in solchen Städten, dann lässt einen das Gefühl nicht los, man sei zu einer falschen Zeit angekommen, als sei man zu spät oder zu früh dran«, sagt der Künstler über derartige, ehemals florierende Industriestädte, die mit ihrer industriellen Produktion oder ihrem Kunsthandwerk die Warenwelt des Kapitalismus maßgeblich geprägt haben.
Ein ähnliches Identitätsproblem thematisierte Mayer jüngst in Pori, im Südwesten Finnlands. Unter dem Titel »Tools from a Workshop, 1960–2010« (»Werkzeuge einer Werkstatt, 1960– 2010«) stellte er im dortigen Kunstmuseum ein Ensemble aus, das er im ehemaligen Rathaus der Nachbarstadt Noormarkku vorgefunden hatte. Er stieß darauf, als er nach einer Tapisserie des Malers Unto Pusa (1913–1973) mit dem Titel »Tools from a Workshop« suchte. Ausgeführt wurde die Arbeit in der berühmten Bildwirkerei von Aubusson, wo auch Picasso, Matisse, Léger und andere Großkünstler dieser Zeit Arbeiten anfertigen ließen, Auftraggeberin und zugleich Gründerin des Museums war Maire Gullichsen. Der Eingriff Mayers war minimal, er holte nicht nur die Tapisserie aus der Versenkung, sondern auch die Umgebung, in der sie fast ein halbes Jahrhundert (nicht) zu sehen war, wie die vergammelten Zimmerpflanzen, spröden Behördencharme verbreitende Holzstühle, und einen Tisch, bedeckt mit Magazinen und Zeitschriften, die, wenn auch mit anderen Mitteln als der kubistische Maler, vom unmittelbar bevorstehenden Aufbruch des vielversprechenden Städtchens Noormarrku künden. Heute haben sich beide Kleinstädte auf bedrückende Weise dem internationalen Standard (und einander) angenähert, die alte Architektur ist modernen Plattenbauten gewichen, die kleinen zentralen Marktplätze bilden austauschbare Shopping Center.
Es entspinnt sich weniger ein Netz an obskuren Bezugspunkten, sondern eine spiralförmige narrative Linie, die den Betrachter immer tiefer in eine immer komplexere Geschichte lockt. Denn Frau Gullichsen tauchte bei der Eröffnung auf, verkörpert von einer Schauspielerin im eleganten dunkelblauen 60er Jahre-Kostüm, eine Dame von Welt, was sich auch in ihrer Rede bemerkbar macht, dieselbe, mit der sie 1960 das Werk an die Behörde übergab. Ihre Darstellung des Zusammenhangs von internationalem Austausch und der Bedeutung des Handwerks für die kulturelle Entwicklung eines Landes zeichnet das Bild einer Moderne, in dem sich Handwerk und industrielle Produktion gegenseitig ergänzen und fördern: »In der Zukunft werden die Produkte von Noormarkku sich vielleicht mit den besten der Welt messen können.« Von diesem Wunsch ist nicht viel geblie- ben, Melancholie kommt auf. »Was passiert durch die Wiedersichtbarmachung dieses Werks unter den neuen zeitlichen Kon- texten? Was passiert durch die Re-Inszenierung der Rede fünfzig Jahre später?« fragt der Künstler. »Die Lücke dazwischen inte- ressiert mich, die eingeschriebene Zeit, was man mit einem Objekt/Kunstwerk verknüpft und auf dieses projiziert, und wie sich dieses ändert, wenn an einem anderen zeitlichen Punkt das Ganze wieder ans Licht der öffentlichen Wahrnehmung gebracht wird.« Eine zweite Arbeit im Museum ergänzte das Projekt: eine dicht zusammengedrängte Auswahl von Pflanzen, die Mayer an öffentlichen und halböffentlichen Orten, wie im Rathaus, der Stadtbibliothek, im Theater, Krankenhaus oder in der Bingo- Halle fand. Eine Art domestizierter Dschungel und gleichzeitig eine Verdichtung der dekorativen Bemühungen ihrer Besitzer, deren nüchterne Arbeitsumgebung zu verschönern. Da die einzelnen Pflanzen ursprünglich aus den verschiedensten Ländern der Welt stammen, ergab sich aus ihrem Ensemble weniger ein kollektives Porträt ihrer Besitzer als vielmehr eine Art Mash-up Flora-Cluster unterschiedlichster Spezies, die Pori mit exotischen Orten der Welt verbinden. An den Wänden hingen lose weiße Papierbahnen, die ansonsten von der ältesten noch existierenden Tapetenfirma Finnlands mit floralen Motiven bedruckt werden und eine ähnliche Sehnsucht befriedigen wie die Zimmerpflanzen. Natürlich stellt der von Gullichsen protegierte »internationale Stil« eine Revolte gegen genau diese dekorativen Exzesse dar, die in den hier visuell ausgeklammerten Tapetenmotiven Urstände feierten.
Nicht nur weil er die Dekoration in seinem Werk auf gleicher Ebene verhandelt wie die Trostlosigkeit, über die sie dekorierend hinwegzutrösten nicht in der Lage ist, ist Mayer ein cleverer »Postbote«. Sondern weil er im Spiel derartiger Pole die Stränge »seiner« Geschichte findet, die er verfolgt und quer durch Orte, Zeiten und ideologische Prägungen entwickelt, bis der Betrachter glaubt, alles zu verstehen und erklären zu können. Um dann festzustellen, dass man gerade überhaupt erst die Werkstatt betreten hat, in der die Welt gemacht wird, wo die Werkzeuge hängen – noch unbenutzt.
ANDREAS SCHLAEGEL ist Autor, Mitglied des Art Critics Orchestra. Er lebt in Berlin
Erschienen in: Spike #25, Herbst 2010