Galerie Mezzanin

Christian Mayer scheint sich der Vergangenheit zu bedienen, um die Gegenwart

umzuschreiben. Häufig beginnt der 1976 im süddeutschen Sigmaringen geborene,

in Wien lebende Künstler mit Episoden und Begebenheiten, die Spuren im

gesellschaftlichen Gefüge hinterlassen haben. Mit großer Detailgenauigkeit

verschneidet er unterschiedliche (alltags)kulturelle, politische und soziale

Kontexte zu reizvollen und visuell intensiven Tableaux. Planmäßig, Schritt für

Schritt ordnet er die Wirklichkeit um, schreibt ihr ein neues, ein unvermutetes

Script.

Ein gutes Beispiel dafür war die Ausstellung „flotsam and jetsam“ (Treibgut), die

2007 in der Galerie Mezzanin in Wien stattfand und als Pastiche aus

Biedermeier und Brasilien, aus Kolonialismus und Sentimentalität daherkam. Es

ging um Geschmack und Exotik, Mode und Abenteuer, um Wissenschaft und um

Gefühle. Mayers Interpretation der Pa!norama-Tapete Les Vues du Brésil

(Ansichten Brasiliens, 2007) legte eine überwältigende Urwaldsilhouette über

die Hauptwand der Galerie. Das Motiv der Bucht von Guanabara, 1829 von der

elsässischen Firma Zuber & Cie hergestellt, hatte den Biedermeierinterieurs

einst das Flair der weiten Welt verliehen. Mayer trieb dem Tropenillusionismus

die Romantik aus, indem er statt der ursprünglich opulenten Farben strenges

Schwarz-Weiß verwendete.

Eine Serie von C-Prints (Les Vues du Brésil à Vienne, Ansichten Brasiliens in

Wien, 2007) wurde im Hofmobiliendepot Möbel Museum Wien, einem

ehemaligen Möbelmagazin aus der Zeit der k.u.k. Monarchie, fotografiert. Vor

dem dort – in echt – applizierten Tapetenklassiker arrangierte Mayer

ausgefallene Empiremöbel mit so einschlägigen Bezeichnungen wie

„Giraffenflügel“. Eine Trouvaille aus demselben Museum war Thema einer Dia-

Soundinstallation (zwei Jahre, ein Monat und zwei Tage, 2007). Zu hören

bekam man das Gezwitscher von Kanarienvögeln, zu sehen ein Dia von Bibi und

Büberl, den Maskottchen Franz I., ausgestopft und auf einen Sockel montiert.

Die Singvögel sollen den Kaiser an seine Tochter Leopoldine erinnert haben, die

er – ganz Habsburger – auf Nimmerwiedersehen mit dem brasilianischen

Regenten Dom Pedro verheiratet hatte.

Mit zahlreichen im Raum verteilten Topfpflanzen der Sorte Monstera Deliciosa

– unter ihrem nom de guerre Philodendron der Schrecken aller

Innenarchitekten – verwies Mayer bei „flotsam and jetsam“ schließlich auf die

eingetopften Palmen in Marcel Broodthaers’ Installation Un Jardin d’hiver (Ein

Wintergarten, 1974) und den auch bei Broodthaers schon auftauchenden

Zusammenhang von kolonialem Wissensdurst und musealer Klassifizierung.

Mayers Storyboards spüren losen Verbindungen nach und etablieren so ein

System von Scharnieren, das es dem Betrachter erlaubt, individuellen

Erzählsträngen zu folgen. Beispielsweise bei Resolute Desk (Resolute-

Schreibtisch, 2008): der Eins-zu-eins-Replik jenes Tischs, der vielen

amerikanischen Präsidenten gedient hat und an dem auch Barack Obama

arbeitet. Dieser Schreibtisch war einst im Auftrag von Königin Victoria

getischlert worden aus den Überresten des englischen Marineschiffs HMS

Resolute, das 1855 beim Versuch, die Nordwest-Passage zu segeln, im Packeis

steckenblieb und im darauffolgenden Sommer als Geisterschiff im Atlantik trieb,

bevor es von amerikanischen Walfängern aufgebracht wurde. Zurückgeschenkt

an die Königin, entspann sich so eine transatlantische Transformation, die Mayer

für seine Installation aufgriff und mit Zitaten von George W. Bush und aktuellen

Meldungen zur Erschließung der Bodenschätze im Nordpolarmeer ergänzte,

platziert auf dem Tisch. Fragmente aus Bekanntem und Unbekanntem verbinden

sich bei Mayer zu Parabeln der Erinnerung und der Wahrnehmung.

Mit dem Komplex des Verschwindens beschäftigt sich der Künstler in der

Ausstellung „Gizmo“ (Ding, 2009) bei Mezzanin, die das Ende der Polaroid-

Produktion thematisierte. Mayer selbst ist glücklicher Besitzer eines Typ 55

Films aus der letzten Produktionsserie; die siebenteilige Fotoserie „Threshold

and Inertia“ (Grenzwert und Trägheit, 2009) verdankt sich dem legendären

amerikanischen Landschaftsfotografen Ansel Adams, der in den 1960er Jahren

als Berater für Polaroid im Einsatz war und Belichtungstests mit handgewebten

Navajo-Teppichen durchführte. Mayers Aneignung auf elegantem Barytpapier

feiert den einzigen Polaroidfilm, der neben dem flüchtigen Instant-Positiv ein

robustes Negativ für Dunkelkammerbehandlung lieferte.

Was Polaroid mit Psi-Phänomenen zu tun hat, lässt eine mehr als schräge

Filmsequenz erahnen, die Mayer in einem Berliner Archiv fand (Gizmo, 2009).

Der einminütige Videoloop zeigt Ted Serios, einen amerikanischen Hotelpagen,

der in den 1960er Jahren mit sogenannten „Thoughtographs“ zu zweifelhafter

Berühmtheit kam. Unterstützt von seinem Agenten, dem Psychiater Jule

Eisenbud, trat er öffentlich auf und behauptete, durch eine Art Psychokinese

Bilder auf einen Polaroidfilm „denken“ zu können. Es war bemerkenswert, wie

Serios seine Nummer mit schmerzverzerrtem Gesicht und spastischen

Zuckungen durchzog und durch ein zusammengerolltes Stück Fotopapier, dem

„Gizmo“, in die Linse der Polaroidkamera starrte. Einfallsreich identifizierte

Eisenbud die verwackelten Ergebnisse der Gedankenfotografie als den

Jupitermond Ganymed.

Materielle Auflösung, realen Verlust und die verschiedenen Deutungen von

visueller Information behandelt Mayer mit der Arbeit In the instant of memory,

everything was swirling and dissolving (Im Moment der Erinnerung wirbelte

alles herum und löste sich auf, 2009), die 450 Polaroids umfasst. Das Material,

während der Dreharbeiten zum Roland Joffés Film Mission (1986) – jenem

Drama über die jesuitische Mission in Südamerika Mitte des 18. Jahrhunderts –

entstanden, war bei eBay aufgetaucht und ist nun in zehn Bilderrahmen so

montiert, dass alle Polaroids, die Hinweise auf die Anwesenheit der Filmcrew im

Dschungel enthalten, auf den Rücken gedreht sind, während die Abbildungen der

eingeborenen Bevölkerung hingegen sichtbar bleiben. Durch diesen simplen

Eingriff gelingt es Mayer, die Wirklichkeitskonstruktion des Films in eine

seltsame Schwebe zwischen Greifbarkeit und Ungreifbarkeit zu bringen.

Zuletzt waren von Mayer unter dem Titel „Scenic“ neue Arbeiten bei Christian

Nagel in Berlin zu sehen. Fotografiegeschichte und der Topos der „great

American landscape“ treffen hier aufeinander: Diesmal bilden Tapeten,

Kodachrome-Filme und ein Nationalpark in Utah das Referenzsystem für

freistehend im Raum aufgestellte Objekte, die wie Aufsteller für eine

Touristenbörse wirken. Mayer schreibt weiter an seinem Script für die

Wirklichkeit…

 

Brigitte Huck

 

Frieze d/e Sommer Summer 2011 s.106 - 108