Delicious monster
Es ist schlimm, daß nur allererst, nachdem wir lange Zeit, nach Anweisung einer in uns versteckt liegenden Idee, rhapsodistisch viele dahin sich beziehende Erkenntnisse, als Bauzeug, gesammelt, ja gar lange Zeit hindurch sie technisch zusammengesetzt haben, es uns dann allererst möglich ist, die Idee in hellerem Licht zu erblicken, und ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen. Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen…die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse…unter einer Idee ausmachen. Die Einheit des Zwecks, worauf sich alle Teile und in der Idee desselben auch unter einander beziehen, macht, dass ein jeder Teil der Kenntnis der übrigen vermisst // werden kann, und keine zufällige Hinzusetzung […] stattfindet.
Wenn ich von allem Inhalte der Erkenntnis, objektiv betrachtet, abstrahiere, so ist alles Erkenntnis, subjektiv, entweder historisch oder rational. [...] Eine Erkenntnis mag ursprünglich gegeben sein, woher sie wolle, so ist sie doch bei dem, der sie besitzt, historisch, wenn er nur in dem Grade und soviel erkennt, als ihm anderwärts gegeben worden, ... durch unmittelbare Erfahrung oder Erzählung, [...] Er bildete sich diese nach Vernunft, aber das nachbildende Vermögen ist nicht das erzeugende. Man kann also (…), niemals Philosophie (es sei denn historisch) lernen.
Vernunfterkenntnisse (…) dürfen nur (…) diesen Namen führen, wenn (…) aus Prinzipien (…) die Quellen der Vernunft (…) geschöpft [werden] (…), ja selbst die Verwerfung des Gelernten entspringen kann. In dieser Absicht ist Philosophie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf dies wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae) und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft.
aus Kant's Kritik der reinen Vernunft
Die hervorstechendste Eigenschaft der Kunst unserer Zeit ist, dass sie nicht mehr als creatio ex nihil definiert wird. Kunst begründet sich stattdessen sozusagen auf "cutting and pasting": Der Künstler sammelt eine Vielfalt von Objekten, Geräuschen, abstrakten Vorstellungen, statischen und dynamischen visuellen Bilder etc., und kombiniert diese "Teile" zu einem neuen "Ganzen". Die Werke, die auf diese Weise geschaffen werden, sind daher Konstruktionen oder Synthesen, und die Betrachter müssen sie als solche ansehen: Sie müssen eine Struktur des "cut and paste" darauf projizieren, und darin eine Vielfalt verschiedener und unabhängig voneinander existierender Quellen entdecken, die zu einem Ganzen zusammengefügt sind.
Oberflächlich betrachtet scheint diese Beschreibung auf frühere Methoden der modernen Kunst zuzutreffen – Collagen, erweiterte Readymades, Assemblagen, Pastiches und Bricolagen. Heutzutage jedoch steht die Logik von "cut and paste" an erster Stelle. Die 2-D-Collage ist ein nicht-organisches Werk der Malerei, aber trotzdem Malerei - Malerei, die eine Kritik an der organischen Konzeption der Malerei verkörpert; um als solche verstanden zu werden, muss der Zuseher auf die Collage eine frühere malerische Ordnung projizieren und erkennen, wie die einzeln erkennbaren Teile sich dennoch zu einem meisterhaften Ganzen verbinden. Das Gleiche trifft auf Assemblage-Skulpturen zu; sie sind nicht-organische Skulpturen, aber trotzdem Skulpturen, was wohl auch für die Kunstwerke gilt, die sich als erweiterte Readymades präsentieren. Die philosophische Kunst unserer Zeit braucht im Gegensatz dazu keine solchen vorherigen Projektionen. Das "cut and paste" Werk muss in erster Linie als Netzwerk von Quellen verstanden werden, die sich einer Synthese unterzogen haben gemäß unerwarteter oder kreativer Kategorien, die eine versteckte Einheit in den Teilen ausdrücken.
Die historischen Werke unseres Zeitalters, um mit den Worten Kants zu sprechen, könnten oberflächlich gesehen auf die zuvor erwähnte Beschreibung passen; auch sie könnten als
Vermischungen verschiedener Quellen konstruiert werden. In diesem Fall jedoch wird die Einheit des künstlerischen Ganzen nur ein Zusammenfließen von zufälligen und persönlichen Faktoren reflektieren, die auf den Künstler-Produzenten bezogen sind – den Willen des Erzeugers, sie als Einheit zusammenzuhalten. Ohne das Konzept zu vereinheitlichen, verlangen die Kunstwerke ersterer Art – welche wir heute expressionistisch nennen – vom Zuseher, die Präsenz von jemandem heraufzubeschwören, der die Quellen zusammengefügt hat – ein Künstler, dessen einigermaßen willkürliche Bemühungen im Zuseher ein Gefühl der Freude hervorrufen.
Die Einheit der Quellen von philosophischer oder konzeptueller Kunst drückt jedoch versteckte Verbindungen aus. So künstlich und kreativ diese Konstruktionen sein mögen, der philosophische Künstler muss sich nicht als das Prinzip hinter die Einheit seiner Kunstwerke stellen, sondern muss diese Rolle stattdessen den versteckten Codes, die er zutage förderte, zuteilen. Anstatt zu versuchen, vielfältige Quellen zu einem willkürlichen, aber angenehmen Ganzen zu kombinieren, ist es sein Ziel, sie einer neuen Synthese zu unterwerfen.
Es sollte zu Anfang erwähnt werden, dass philosophische Werke nicht objektiven Qualitäten unterworfen sind; für philosophische Künstler, die auf der Suche nach neuen Kategorien sind, die es ermöglichen, die Quellen in neuem Licht erscheinen zu lassen, ist es oft ratsam, besonderes Augenmerk auf vernachlässigte oder übersehene Aspekte derselben zu legen, die sich in ihrer subjektiven Wirkung entfalten. Im ersten Fall gibt es diese Verbindungen zwischen Einheiten, die zusammen im Bewusstseinsstrom eines Individuums treiben; folglich nennen wir diese Einheiten Treibgut (flotsam).
Es ist darüberhinaus durchaus nicht wahr, dass philosophische Kunst von Natur aus dazu gezwungen ist, sich auf die Synthese immaterieller Vorstellungen zu beschränken. Insofern Objekte analysiert, in verschiedene Kategorien klassifiziert und zu Teilen einer Sammlung gemacht werden, werden sie nicht als reines Material behandelt, sondern mit intellektueller Arbeit eingebunden und werden folglich auch zu Elementen des Bewusstseinsstroms. Jeder mit einem Auge für Sammlerstücke ist sich dieser Qualitäten sogar in Abwesenheit des ursprünglichen Sammlers, der sie über ihren bescheidenen materiellen Status hob, sehr bewusst. Er kann sehen, dass diese Objekte einst in einem individuellen Bewusstseinsstrom trieben und an einem Punkt mit Aura und Charisma ausgestattet wurden, die sie von anderen Objekten in jeder Hinsicht unterschieden. Er kann ihre Herkunft sehen, sogar wenn er sie gestrandet an der Küste findet, ihres Besitzers beraubt, und er nennt sie Strandgut (jetsam).
Die der deutschen Sprache mächtigen Leser wissen zweifellos, wie Herr Biedermeier – ein sprichwörtlicher Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater – die rauchenden und unheimlich stillen Schlachtfelder der Napoleonischen Kriege verließ, um nach Hause zurückzukehren, müde und entmutigt, entschieden ein episches Kapitel seines Lebens zu schließen, und schwor, dass das nächste, das ihn erwarte, ausschließlich eine ruhige, sichere und auf sich selbst gerichtete Existenz sein werde.
"Wenn das Leben bloß so einfach wäre", sagte er etwas später zu sich, als er gemütlich in einem Palisander-Sessel saß und auf die kürzlich angebrachte Tapete starrte, die das gesamte Wohnzimmer bedeckte und eine anschauliche Kulisse für eine Vielzahl von Armsesseln, Beistelltischen, Stehlampen, Sofas und einen Mahagoni-Kartentisch mit vier passenden Sesseln bot. Kürzliche Fortschritte der Drucktechnologie erlaubten es ihm und einer ausgewählten Zahl anderer, an ihre Wände die schattenhafte Vogelperspektive einer fremden Küste zu projizieren und ein Abbild des üppigen, tropischen Dschungels Brasiliens in ihr dunkles Allerheiligstes einzulassen.
"Wenn Stille und innerer Frieden das wären, was ich wirklich wollte", fragte sich Herr Biedermeier im Stillen, "warum holte ich eine tosende, exotische Szene mit fremden bunten Vögeln in mein Wohnzimmer, deren Lautgewirr in meinen Gedanken für immer mit dem sauren Geruch von Schießpulver verbunden sein wird?" Die irritierten Augen wurden sanft, als sie in das große Bild eindrangen; es entschlossen erforschten, als ob aus eigenem Willen, bis sie bei einer kleinen Gruppe dunkler, hell gekleideter Männer und Frauen ruhten, die ihren täglichen Pflichten nachgingen. Als sie tiefer in die Szene hineintauchten, war endlich das ganze Sichtfeld von einem einzelnen Mitglied der Guppe ausgefüllt - einem lieblichen Mädchen, das sich weit zurücklehnte, sich scheinbar selbst ansah, ihr Spiegelbild, in der glänzenden Oberfläche eines Tisches, der an der Wand stand.
Das Zentrum der Aufmerksamkeit wurde abrupt ein anderes, angezogen von einer Reihe scharfer hörbarer Eindrücke, die von einem Käfig mit einem Paar blaßgelber Kanarienvögel ausging. Die Töne riefen in seinem Geist immer den selben Gedanken hervor: "Kaiser Franz selbst hat ein Paar dieser Vögel!" Das liebende Paar war von einem handförmigen Monstera Deliciosa-Blatt einer Topfplanze nahe des Fensters aus seinem Schlummer geweckt worden, das für einen Moment in
ihren Käfig drang, nachdem es von einer zweiten blättrigen Hand in Bewegung versetzt worden war, die unser Herr selbstvergessen wrang.
Ein starker Lufhauch brachte plötzlich den schweren Brokatvorhang zum Schwingen, der
liebevoll die Einrichtung behütete; für einen kurzen Moment fluteten Sonnenstrahlen den Raum und verursachten vorübergehende Blindheit, die für einige Sekunden anhielt, sogar nachdem der Wind abgeflaut und die Dunkelheit zurückgekehrt war. Als die Augen ihr Sehvermögen wiedererlangt hatten, erschienen der Raum und seine Gegenstände dunkler und anders; die von Palmen gesäumte brasilianische Küste war zu einer bedrohlich gezackten Silhouette reduziert; die liebenden Vögel schienen dagegen blaß und schwach und ihr blutleerer Gesang brachte keine Freude oder Ruhe.
Biedermeier erkannte, dass er sich zum ersten Mal nach der lichtgetränkten Welt sehnte, die er zurückgelassen hatte.
Martin Guttmann
Übersetzung Lisa Houska