Wenn ein Reisender in einer Winternacht
(Victoria Dejaco, 2014)
In dem 1973 erschienenen Roman des italienischen Autors Italo Calvino wird der Leser auf eine Schnitzeljagd nach dem neuen Roman von Italo Calvino "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" geschickt. Das Buch, das der Leser kauft, ist fehlerhaft gebunden. Dazwischen befinden sich Seiten eines anderen Romans von einem Polnischen Autor. Dieser, so stellt sich heraus, ist ein Patchwork von verschiedenen Geschichten aus der chimärischen Literatur, die in der Übersetzung zu einer neuen Geschichte zusammengedichtet wurden. Ständig verwischen die Realitätsebenen: "Der Roman beginnt auf einem Bahnhof, eine Lokomotive faucht, Kolbendampf zischt über den Anfang des Kapitels, Rauch verhüllt einen Teil des ersten Absatzes." Auf der Suche nach dem Roman werden von Kapitel zu Kapitel die Produktionsumstände und sozio- historischen Bedingungen für das Schreiben und Entstehen eines Buches, aber auch die Rituale rund um das Lesen thematisiert, die Verhältnisse zwischen Autor und Leser, Leser und Text, handelndem und lesendem Ich beleuchtet oder ihre Grenzen verwischt. Der Leser wird mit Du angesprochen, der Autor ist die Ich-Person. "Die Reden und Rufe bilden ein unverständliches Stimmengewirr, aus dem allerdings auch einzelne Worte oder Sätze auftauchen können, die für den Fortgang der Handlung entscheidend sind. Um richtig zu lesen, musst du den Faktor Stimmengewirr ebenso registrieren wie den Faktor verborgene Absicht, den du freilich noch nicht erfassen kannst (ich auch nicht)." Fünf Jahre nach dem Erscheinen von Roland Barthes "Der Tod des Autors" wird in Italo Calvinos Konzeptroman auch eben der Autor, sein Status und seine Macht über Text und Leser in Frage gestellt. Autor und Leser werden in dieselbe Realitätsebene gebunden.
Maureen Kägis Werk hat die Qualitäten dieses Buches. In ihren Arbeiten, die sich in den unterschiedlichsten Medien manifestieren, werden ständig Material, Produktions- umstände, Entstehungsbedingungen, Arbeitsprozesse in den Mittelpunkt der selbst- reflexiven Arbeiten gerückt, ohne jedoch den Arbeiten eine gewisse Aura zu entziehen. Die Arbeit o.T., 2013 ist auf den ersten Blick ein schwarzes Monochrom, zugegebener– maßen mit einer satten Tiefe. Doch ähnlich wie bei Ad Reinhard stellt sich bald heraus, dass das Schwarz mit der Veränderung der Position des/der Betrachters/in zum Bild in dunklen aber leuchtenden Regenbogenfarben changiert, die an Motoröl erinnern. So als wären Metallpigmente in etwas gemischt, das nach Tusche aussieht. Auch der Auftrag der Tusche ist zunächst nicht erschließbar. Ein Pinsel scheint eher nicht in Frage zu kommen. Die Oberfläche ist homogen, jedoch nicht ohne Spuren, die eine Vermählung von Zufall und Kontrolle in ihrer Entstehung vermuten lassen. Dem ist auch so. Die Tinte aus den kleinen Röhrchen der Bic-Kugelschreiber wird auf die Papieroberfläche geblasen und mit einer Plastikkarte oder ähnlichem darauf verteilt. Das Material und der Effekt dessen ist dem Betrachter in der Regel völlig unbekannt (Erscheinungsform der Tinte) und rätselhaft (ihr Effekt). Um die hundert Kugelschreiber hinterlassen ihre schwarze Galle (μαύρο (mélas) „schwarz“, und χολή (cholé) „Galle“ aus diesen beiden Griechischen Worten setzt sich der Begriff Melancholie zusammen) auf dem Papier. Die Tiefe und der hohe Sättigungsgrad lassen viele Schichten vermuten, wobei sich nur eine auf dem Papier befindet. Was zunächst schwarz erscheint, ist eine Kombination aus den Bic-Kugelschreibern rot, blau und grün. Ein mulmiges Gefühl entsteht, das erahnen lässt: Vieles in Maureen Kägis Werk ist nicht so wie es scheint und überall können immer mehrere Schichten und (Bedeutungs-)Ebenen freigelegt werden. Ihr spielerischer Umgang mit dem Material lässt unübliche Qualitäten hervortreten, nicht ohne Überraschungseffekt. Die Quelle der Veränderung und Einflussnahme oder der bestimmende Faktor ist meist außerhalb des Werkes und evoziert ein Gefühl von Unsicherheit, Unbekanntem, Unerfasstem. Wie entsteht das Muster am Papier? Wenn alle Linien wie bei o.T., 2013 ganz offensichtlich aus der gequälten und geschürften Mitte des Bildes entspringen ist dies noch nachvollziehbar. Aber manche geometrische Formen sind sehr viel schwieriger herzuleiten. Ihre Ausgangspunkte liegen weit außerhalb des Bildes und hinterlassen oft einen Meter von ihrem Ursprung entfernt ihre Markierungen. In der fertigen Arbeit ist dann vom Ursprung nichts mehr zu erkennen. Der Rand der Bilder verweist auf ein Jenseits. Auf etwas außerhalb des Bildes. Passenderweise rahmt Kägi diese Serie von Bildern selten. So als wäre es fehl am Platz ihnen eine Grenze zu geben; sie auf sich selbst zu beschränken. Das Resultat der äußeren Einflussnahme, was auf den Bildern zu sehen ist, ist ein immer wiederkehrender Hinweis auf die sich wiederholenden Arbeitsprozesse. Eine Linie ist eine Linie ist eine Linie. Endlos viele Linien werden zu einer Fläche und viele Linien auf einem Papier machen das Papier fast kaputt. Auch das zeigen die meisten Arbeiten auf Papier. Sie zeigen das Papier und wie es sich dem Prozess unterordnet. Oder wie es sich durch die Bearbeitung zu Wort meldet. Je mehr es von seiner Unversehrtheit einbüßt, desto präsenter wird es in seiner eigenständigen Materialität. Die Wiederholung einer Routine, einer feststehenden Regel hat noch einen weiteren Effekt. Das ausführende Subjekt nimmt sich dadurch zurück. Tritt der/die Autor/in in den Hintergrund, so rücken das Material, das Werkzeug, die Bewegung und ihre Wiederholung in den Vordergrund. Dieser Ansatz spiegelt sich auch klar in den selten variierenden Titeln (o.T.) wieder. Das Gegebene soll möglichst unbelastet für sich selbst stehen.
Wiederholung ist auch immer ein Insistieren. Ein Insistieren und Verweisen, ein in den Mittelpunkt rücken, ein Platz machen. Im Video Moving Still, 2010 steht ein halb gefülltes Wasserglas auf einem Holztisch. Darüber wurde eine Lampe ins Schwingen gebracht. Wodurch? Vielleicht eine vom Tisch aufspringende Gestalt oder gar ein Gegenstand, der durch den Raum flog? Durch das Nicht-Verändern der gezeigten Situation wird eine Erwartungshaltung kreiert (‚gleich passiert was’) und dadurch ein Raum für potenzielle Möglichkeiten geöffnet. Die Narrative zu rekonstruieren wird dem Betrachter überlassen. Auch das Wortspiel im Titel gibt darüber wieder nicht Auskunft, sondern nennt nur die Fakten. Wir betrachten ein in Bewegung gebrachtes Filmstill (moving still). Rückwärts gelesen verweist der Titel aber auch auf die zeitliche Dimension, in der der Lichtkegel unverändert über dem Glas kreist (still moving). So bildet der Titel aneinandergereiht eine Schleife (moving still moving still moving), die semantisch die Struktur des Videos wiederholt. Die Sequenz von 14:00 min wird zu einer Endlosschleife geloopt. Wiederholung und Insistieren können aber auch Übersehenes zutage bringen. O.T., 2011 wurde passend zum Titel der Ausstellung where the surface is im MUSA, Wien von Kägi konzipiert und vor Ort ausgeführt. Der Graphit, der unermüdlich auf die Wand aufgetragen wurde, gibt ihr einen metallischen, spiegelnden und edlen Schimmer. Jedoch reagiert der Graphit sensibel auf alle Unebenheiten der Wand, auf ihre Ausbesserungen und Patzer, die zuvor auf der weißen Wand nicht sichtbar waren. Erst Kägis Bearbeitung rückt die wahre Oberflächenbeschaffenheit der Ausstellungswand und die Spuren ihrer Geschichte ins Licht.
Auch Endresultaten, die wie eine minimale Geste wirken, geht ein solcher unermüdlicher Wiederholungsprozess voraus. In der Arbeit o.T., 2011 wurden in ein Blatt Papier Dreiecke geritzt. Immer nur zwei Seiten des Dreiecks sind eingeritzt. Die dadurch entstehenden Ecken werden nach oben gefaltet und stehen wie stilisierte Tannenbäumchen auf ihrer Unterkante noch am Blatt hängend. Nur einige Zentimeter hoch. Durch ungleiche Größen ergibt sich eine hügelige Landschaft. Eine weiße Winterlandschaft. Das Sichtbarmachen der wiederholenden Geste geht hier einher mit eine große poetische Kraft, die in der Reduktion liegt. Ihre Arbeiten eröffnen Räume zum Atmen. Bei all den überfüllten Räumen unseres täglichen Lebens, die uns mit Eindrücken und Informationen überschwemmen, tun sich in ihren Arbeiten Freiräume auf, die in der Wiederholung eine Ruhe verbreiten, laut genug um gehört zu werden, leise genug um aufhorchen zu lassen.