David Quigley, 2007
Some things you lose, some things you give away / Künstlerbuch / artist book
schlebrügge.editor, Wien
Die Produktion der Wirklichkeit
“Der Mythos ist wieder in das Wirkliche einbezogen worden
und Dichtung wird zum ursprünglichen Element des Realen.”(1)
Künstler schaffen Werke, die von einer besonderen Beziehung zur Wirklichkeit zeugen, die eine gewisse Freude ausdrücken oder Schmerz, einen Moment des Staunens festhalten oder, an manchen Tagen, eine kritische Einschätzung der allgemeinen Lage der Welt. Als Produkte von Erfahrungen verraten diese Werke unseren Zeitgenossen auf der einen Seite etwas über uns und kommunizieren auf der anderen Seite mit unserer eigenen Zukunft – hinterlassen dabei Spuren der vielen Entscheidungen und Ideen, aus denen wir uns unsere Wirklichkeit konstruieren. Diese Schöpfungen reflektieren die fantastischen Träumen aus Mythen und persönlichen Erinnerungen, die Männer und Frauen mit einer beruhigenden, inneren Heimeligkeit umgeben, mit den vertrauten und oft auch warmen Gefühlen, die wir mit der Kontrolle der Natur verbinden, mit dem Verstehen ihres komplexen Reiches, und dennoch kämpfen diese Arbeiten gleichzeitig mit den vielen untergründigen, mikroskopischen und makrokosmischen Gefahren, die jenseits des Verstehens auf uns lauern. Die Arbeiten definieren, was die Wirklichkeit ausmacht, bilden die Grundlage dafür, und zeugen dennoch von einem Gefühl des Unwohlseins, der Angst und des Verlusts der Kontrolle über die Bedingungen der Wirklichkeit. Und tatsächlich deutet einiges auf eine Explosion großen Ausmaßes hin, oder auf die nicht weniger bedrohliche und doch unausweichliche Implosion unserer eigenen Körper, die jeden Moment den Mächten von Tod und Verfall nachzugeben drohen.
Illusionen von Gesellschaft, Illusionen von Identität und illusionäre Vorstellungen davon, was war, was ist und was kommen wird. Umgeben von teilweise realen Fantasien, verwirrt und oft bewegt durch die Repräsentationen und Mythen, die verführerisch in der Noosphäre herumschwirren: im Geist, im Nicht-Geist, in den Träumen und der Wahrnehmung der Wirklichkeit, die unablässig in das Kontinuum der Geschichte hineingesprengt werden. Den Spuren der Reisen Anderer zu folgen, ihre und unsere eigenen Symptome oder Gründe der Hoffnung und des Glaubens zu diagnostizieren aber auch am Augenblick zu verzweifeln, an seiner Einzigartigkeit, die, wie uns die Philosophen ohne Unterlass erinnern, immer über den eigenen Inhalt hinausweist. Bilder, die festgehalten werden können, als Fotos „geschossen“, reproduziert, gemalt und in Film und Video animiert. Ein Überfluss an Bildern wird mal still in Bücher geschlossen, mal auf Leinwand gemalt oder auf Atelierwände geklebt oder gepinnt.
An einem wolkenverhangenen, kalten Tag haben wir Walter Benjamin getroffen, der, wie es uns heute fast schwer fällt zu glauben, in derselben Straßenbahn, an derselben scheußlichen Neubausiedlung vorbeigefahren ist. Verdinglichung des späten Nachmittags nach einer spätkapitalistischen Shoppingtour und langwierigen Überlegungen über die Vorzüge von digitalen Spiegelreflexkameras. Benjamin ist natürlich schon lange tot und seine Worte sprangen aus einem längst überfälligen Bibliotheksbuch, das ich zufällig dabei hatte, was, wie mein Begleiter behauptete, sicher kein Zufall war. Es stimmt. Ich wusste wahrscheinlich, dass uns an diesem Tag ein ähnliches Schicksal ereilen würde:
Breton und Nadja sind das Liebespaar, das alles, was wir auf traurigen Eisenbahnfahrten (die Eisenbahnen beginnen zu altern), an gottverlassenen Sonntagnachmittagen in den Proletariervierteln der großen Städte, im ersten Blick durchs regennasse Fenster einer neuen Wohnung erfuhren, in revolutionärer Erfahrung, wenn nicht Handlung einlöst. Sie bringen die gewaltigen Kräfte der „Stimmung“ zur Explosion, die in diesen Dingen verborgen sind.(2)
Offenbarung als Kristallisation der Kräfte, die den Moment ausmachen. „Bild ist die Dialektik im Stillstand.“3 Diese Erfahrung ist die explosive „Erleuchtung“ des Moments, eine revolutionäre Anerkennung der alltäglichen Welt, die, wie Benjamin behaupten würde, mehr als Trick, denn als Methode verstanden werden sollte. Hier an einem düsteren Tag in irgendeiner mitteleuropäischen Stadt (ich gebe zu, dass es Wien war) bestand die Erhellung des Moments aus dem Aufeinandertreffen von Bob Dylan auf einer alten Mixkassette, die ich dabei hatte und die wir uns gerade, jeder mit einem Kopfhörerstöpsel im Ohr, anhörten (verzeiht mir die Romanik), mit ein paar symmetrisch auseinanderleuchtenden Sonnenstrahlen, die einen Moment lang die Wolken durchbrachten und außerdem einer Reihe von Gedanken, die es irgendwie geschafft hatten, die nebulösen Konventionen und die soziale Programmierung zu durchbrechen, die eine ganze Zivilisation in den Rhythmus des Erhalts eines abstrakten Musters zu pressen schienen. Diese Erhellung war es auch, die mich mit Nachdruck erinnerte, dass es im Leben um mehr geht, als um die öde Reproduktion dieser unserer entfremdeten Welt.
Wie solche Offenbarungserlebnisse können auch Kunstwerke die Monotonie der Bewusstseinsmaschinerie durchbrechen, die unablässig ein Kontinuum an Wirklichkeit produziert und reproduziert, das sie als Phänomen der alltäglichen Ereignisse tarnt, wie sie in Zeitungen und auf Websites erscheinen, oder in den Abendnachrichten zum Leben erweckt werden. Es gibt viele etablierte Methoden, wie man solche Arbeiten, mit denen wir unsere Visionen der Welt zu konstruieren hoffen, entwerfen kann. Gleichzeitig birgt die scheinbare Permanenz dieser vorgegebenen, bewährten Rezepte einen klaren Konflikt. Der aktuelle Augenblick, die Singularität des Moments des „Jetzt!“ scheint mehr zu verlangen als ausgetretene Handlungspfade. Die Neuheit des Tages, die fast kitschige und dennoch fundamentale Einzigartigkeit dieses Sonnenaufgangs an diesem Herbsttag, mit seinen geschäftigen Straßen beim Aufwachen, wenn man als Erstes vor allem an die erste Tasse Kaffee des Tages denkt. Zu versuchen, einen Weg zu finden, dies auszudrücken und vielleicht sogar etwas zu finden, was diesem Ausdruck Dauer verleihen könnte. Diese Arbeiten sind das, was wir machen, die Hinterlassenschaften und Artefakte einer permanent produzierenden Menschheit.
Was immer wieder auftaucht, ist die Frage des Realismus. Realismus in seinem traditionellen Sinn als eine Form des Naturalismus, aber auch der Realismus der Objekte, d.h. der Realismus der tatsächlichen Erfahrung. Bei meinen Streifzügen durch die Bibliothek stolperte ich neulich über die Schriften von Conrad Fiedler, die, obwohl größtenteils zu weit von unseren eigenen Problemen entfernt, trotzdem dieses Problem, das ich zu verstehen versuchte, aufgreifen, wenn auch mit der pedantischen Klarheit des 19. Jahrhunderts:
Wenn von alters her zwei große Prinzipien, das der Nachahmung und das der Umwandlung der Wirklichkeit, um das Recht gestritten haben, der wahre Ausdruck des Wesens der künstlerischen Tätigkeit zu sein, so scheint eine Schlichtung des Streits nur dadurch möglich, daß an die Stelle dieser beiden Prinzipien ein drittes gesetzt wird, das Prinzip der Produktion der Wirklichkeit. Denn nichts anderes ist die Kunst als eins der Mittel, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt.(4)
Obwohl es schwer fällt, das Problem so kategorisch zu betrachten, ist es bei der Betrachtung dieser Arbeiten wichtig, diesen Unterschied zwischen der Repräsentation und dem Schaffen von Wirklichkeit zu beachten. Die Spannung zwischen den Realitäten auf der Oberfläche der Leinwand, des Kunstwerks als Wirklichkeit und dem Reich der Erfahrungen, des dreidimensionalen, sinnlichen Augenblicks, kann auf gewisse Weise nur durch genau diese Kunst als „eins der Mittel, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt“, gelöst werden. Dies ist eine Ästhetik des Produzierens der Welt, nicht ihres bloßen Konsumierens. Der heute größtenteils vergessene Kunsthistoriker Carl Einstein hat Fiedler auch gut studiert:
Wahrer Realismus heißt: nicht Gegenstände abbilden, sondern solche erschaffen.
Und weiter:
Nun aber gilt es das Schauen als Schöpfung zu retten; damit Malen heißt nun ein Dichten; denn dichtend erschafft man Realität. (5)
Indem wir produzieren, versuchen wir, diese Momente als neue Realität aufzuzeichnen und festzuhalten, sie zu einer neuen Realität zu verwandeln, um unsere eigene Realität zu verteidigen. Hierbei ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass dieses Produzieren im Sinne der Produktion von materiellen Dingen, aber auch der Produktion eines Theaterstückes, Films oder einer eigenständigen Erfahrung verstanden werden kann. Dabei geht es um die Produktion der realen Bedingungen der Erfahrung und der dazu gehörigen Geschichten und Mythen, die den Mehrwert all des Gegenwärtigen beschreiben, das über die Gegenwart hinausweist, das heißt, die den Moment beschreiben, der nach der Zukunft greift und die Welt, die kommen wird, erschafft.
Aber was sind die Methoden? Was die Medien? Wie soll diese bevorstehende Wirklichkeit aussehen? Von Anfang an gibt es Fragen und, von den allgegenwärtigen historisierenden Weissagern mal abgesehen, scheinen sich die Antworten jeglicher Kategorie oder Periodisierung zu entziehen. Im Gegenteil scheint es eher so, als ginge es vor allem darum, zu einer Art Nullpunkt zurückzukehren, die vielen vorgegebenen Pfade zu verlassen, sein Projekt den vielfältigen Manifestationen möglicher Welten zu öffnen. Durch Gegenüberstellung, Montage-Denken, zeitliche und räumliche Entfesselung könnte es möglich sein, ein paar der Kategorien, seien sie nun kunsthistorisch oder psycho-sozial, zu vermeiden, die unsere Fantasien zu Phantasmagorien Anderer (sei verflucht, verdammte Verdinglichung!) reduzieren. Um eine immanente Mythologie zu erschaffen, hier und jetzt! Und wieder könnten wir zu Walter Benjamin zurückkehren – vielleicht, weil uns die Unvollständigkeit seiner Projekte an die Notwendigkeit erinnert, von neuem zu beginnen – und hier besonders zu dem legendären Passagen-Projekt. Fragmentarische Beobachtungen, die vom Strom der Arbeit mitgerissen werden, auf langen Spaziergängen durch das Zweite Arrondissement in Paris oder in geduldiger Arbeit in Bibliotheken gesammelte Eindrücke, schließlich in Notizbüchern und Heftern zusammengetragen, um erst viele Jahre nach seinem Tod veröffentlicht zu werden.
Und so eine Ausdrucksform zu entwerfen, die eher ein Sammeln und Zitieren ist, ein Organisieren der vorgefundenen Welt, wenn auch nicht entlang irgendwelcher strikten taxonomischen oder bürokratischen Kategorien.
Zu sammeln, aber auch umzuformulieren und zu transformieren, persönliche Erfahrungen mit den Erfahrungen und Arbeiten anderer zu verweben, durch eine Masse an Bildern zu sieben, um zu einem Gemälde zu gelangen, das als Artefakt eines persönlichen oder überpersönlichen Erlebnisses fungiert. In diesem Sinne versucht die doppelte Methodik, dieses kleinen Essays und der Arbeiten von Katrin Plavcak, einen Inszenierungsraum zu bieten, innerhalb dessen die Gegenwart aufgezeichnet und gleichzeitig erschaffen werden kann. Diese Bildproduktion ist eng mit einer anderen Lebensart verbunden, die oft als andere Lebensformen dargestellt wird (von der Chemosynthese der Black Smoker am Meeresboden zu den außerweltlichen Weltraumutopien), sie zeigt die lebende Welt, aber auch das bewegungslose Kunstwerk als vergängliche Wirklichkeit, die in den Spuren der Werke nachlebt.
1 Einstein, Carl, Georges Braque, (1934), in: Berliner Ausgabe Werke III: 1929-1940, (Hrsg.) Hermann Haarmann and Klaus Siebenhaar (Berlin 1996), S.409
2 Benjamin, Walter, Der Surrealismus, (1929), in: Gesammelte Schriften, Vol. II:1 (Frankfurt 1998), S.300
3 Benjamin, Walter, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, Vol. V:1 (Frankfurt 1998), S.578
4 Fiedler, Conrad, Moderner Naturalismus und künstlerische Wahrheit, (1881), in: Schriften über Kunst, S.128
5 Einstein, Carl, Georges Braque, (1934), in: Berliner Ausgabe Werke III: 1929-1940, (ed.) Hermann Haarmann and Klaus Siebenhaar (Berlin 1996), S.326