Galerie Mezzanin

Von Marcus Steinweg für die Ausstellung Herz aus Jean, Galerie Mezzanin, 2011

 

Konkordanzen


Für Katrin Plavcak

Beginnen wir damit, eine Stelle aus Derridas De la grammatologie (1967) in Erinnerung zu rufen, wo es vom Herzen heißt, dass es, da es „kein Organ“ sei, „Organ der reinen Präsenz“ genannt werden muß.[1] Im Herzen – wenn auch nicht in der Mitte – einer Analyse, die Jean-Jacques Rousseau gewidmet ist, diesem Philosophen des reinen Herzens, evoziert Derrida das Bild einer Konkordanz, die der reinen Kommunikation reiner Herzen entspricht. Als legte sich ein Herz auf das andere, um mit ihm zu einem Singular zu verschwimmen und in dieser neu gewonnenen Einheit zu erstarren, die das Gehäuse einer sollipsistischen Dyade generiert. Als versuchten zwei Herzen zu einem zu werden, indem sie im jeweils anderen zerfliessen, so tief gräbt sich das eine ins andere, so hoch ist die Bereitschaft eines jeden im anderen zu wohnen, sich in ihm einzunisten und sich ihm zu assimilieren, in ihm sich wiederzuerkennen bis zur Erfahrung vollendeten Selbstverlusts. Konkordanz, Kommunion, Kommunikation – können tödlich wie die Liebe sein.

 

Wenn es ums Herz geht, um Angelegenheiten des Herzens, so scheint es, kommen einem solche Bilder in den Sinn. Bilder von der Fluidität der Herzen, die, wie Magma, ineinanderströmen, um einen See flüssigen Feuers zu bilden, ein einziges flammendes Herz, wie es die Liebe indiziert. Es kann sich, wie bei Spinoza, wie bei Rousseau, um die Konkordanz des Menschen mit Gott, mit dem Magma, das die spinozistische Ontologie Substanz nennt, handeln. Es kann die Liebe zwischen zwei Menschen sein, die im geteilten Herzen ihre Singularität zu opfern bereit sind, bereit sie zumindest unendlich zu neutralisieren. Ein Herz küsst das andere, um sein autoaffektives Selbst in der Erfahrung der Verschmelzung oder zumindest der Eintracht, der Komplizenschaft zweier oder mehrerer Herzen zu kompromittieren. Ich liebe dich – dieses, wie es scheint, ewige Syntagma – heißt zugleich auch dies: Ich kompromittiere mich in dir.

Wir können nicht umhin, einen der Anfangssätze der Bekenntnisse des Heiligen Augustinus zu zitieren: Jeder kennt dieses so einfache wie ergreifende Latein: „quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te / geschaffen hast Du uns zu Dir, und ruhelos ist unser Herz, bis dass es seine Ruhe hat in Dir.“[2] Abermals beginnt ein Herz zu rasen, während es sich Gott zukehrt, um eine Art Herzstillstand einzuklagen, eine Ruhigstellung seiner selbst. Das ruhelose Herz, geeignet das finite Sein des Subjekts zu markieren, verlängert sich im Gebet auf die infinite Substanz. Wenn es einen Sinn des Betens gibt, dann liegt er im Bekenntnis dieser Ruhelosigkeit, die das Subjekt einen Schlaf erträumen lässt, eine Pause oder Rast, einen Abstand von sich, von dem Selbst eines Selbst ohne Selbsthaftigkeit, vom Loch im Herzen des Subjekts. Das durchlöcherte Herz beschreibt das Subjekt der Liebe kaum besser als das Subjekt überhaupt.

 

Ist nicht das Subjekt im allgemeinen durchlöchertes Subjekt, das sich im Fieber, in der Unruhe, im Umherirren identifiziert? Ein umherschweifendes Cogito, das Derrida mit der Vernunft im allgemeinen – mit der auf ihren impliziten Wahnsinn geöffneten Vernunft – assoziiert.[3] Eine Art Allien, der namen- und gesichtslos, in jedem Fall aber ohne gesicherte Identität, im Vakuum seiner Wesensleere umherstreift. Ein Allien ganz von dieser Welt, ein innerirdisches, innerterrestrisches Subjekt dieser einen Welt ohne Ausgang, von der Jean-Luc Nancy sagt, dass sie – wie übrigens das Subjekt, das sie bewohnt – einem „Wurf ohne Entwurf“ gleicht, Welt als „reines Außersichsein“.[4] Das Herz, schreibt Nancy, ist das „Organ, das, um zu begreifen, ergreifen und sich ergreifen lassen muss“.[5] Anders als der reine Verstand – aber, existiert er? – kontaktiert das Herz ein Außen, das sich als elementare Unbestimmtheit, als Ozean der Gefühle und Wüste inkommensurabler Affekte, beschreiben lässt. Es selbst ist ein Affekt und es lässt sich affizieren, es riskiert zu verunsichern, zu bedrängen, zu verstören, wie es auch riskiert, verunsichert, bedrängt, verstört zu werden. Als ruheloses Organ beunruhigender Leidenschaften übergibt es das Subjekt einem Taumel, der vielleicht beides gleichermassen ist: Taumel eines Denkens, das sich der Sphäre des Ungewussten öffnet, wie Taumel jeglicher Lebensdynamik, die sich in ihre Gewissheiten einzuschliessen weigert. Als Organ des denkenden Lebens bleibt es dem Inkommensurablen oder Unlebbaren zugekehrt. Nancy ist sich mit Derrida einig, dass ein Riß jegliche Präsenz (wie jedes Herz und jedes Subjekt) durchläuft und ins Wanken bringt, weshalb er Nietzsche (mit Augustinus, mit Plato und Kant) als Philosophen einer „heftige(n) Unruhe“[6] adressiert. Es kann das Herz eines anderen sein, das fremde Herz, das die Stelle des eigenen annimmt (Nancy spricht von seiner Herztransplantation), die das Subjekt der Konfusion des Eigenen mit dem Fremden, der Identität mit der Präsenz aussetzt: „Mein Herz wurde nun zu meinem Fremden.“[7]

Ob es das fremde Herz in mir ist, ob es mein Herz ist (mein augustinisches Herz, wenn man so sagen darf), das sich im Anderen (sei es Gott, sei es die Geliebte) versenkt, um sich inmitten dieser Fremde ruhigzustellen, niederzulegen, dort einzuschlafen und zu träumen, immer handelt es sich um eine problematische Konkordanz zweier Herzen, denen es kaum gelingen kann ihre Fremdheit voreinander zu verbergen, während sie sich ihrer Liebe füreinander versichern, dem Gefühl auch einer gewissen Einigkeit.

 

Aber, was bedeutet all dies? Vielleicht nicht viel mehr, als dass zu jeder Konkordanz die Erfahrung des brüchigen Herzens gehört. Für diesen Bruch steht es ein: das Herz als Symbol oder Allegorie riskanter Passionen, das, indem es sich von sich selbst losreißt, um eine Andersheit zu betreten oder zu empfangen, die Erfahrung der Brüchigkeit des Subjekts erfährt, ganz gleich auf welche Entität es sich richtet, welcher Sonne es sich anvertraut, welchem Orient, welcher Nacht. Es kann nicht anders als sich zu seiner Verletzbarkeit zu bekennen. Wenn wir vom Herzen sprechen, dann sprechen wir bereits von einer Verletzung, mag diese Verletzung und die Wunde, die sie bezeugt, in der Vergangenheit liegen (aber, die vergangene Vergangenheit, sagt uns die Psychoanalyse, gibt es nicht) oder in der Zukunft. Mag sie sich in diesem Augenblick, jetzt, in mein Herz einnisten, es durchbohren, wie man sagt, es brechen oder teilen. Das Herz kann nicht anders als der Schauplatz einer das Subjekt an seine Grenzen führende Erfahrung sein.

 

[1] Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1974, S. 428.

[2] Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, Erstes Buch, Frankfurt a. M. 1987, S. 13.

[3] Jacques Derrida, „Cogito und Geschichte des Wahnsinns“, in ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1972.

[4] Jean-Luc Nancy, „Ex Nihilo“, in ders., Der Eindringling, Berlin 2000, S. 53.

[5] Jean-Luc Nancy, Dekonstruktion des Christentums, Zürich/Berlin 2008, S. 133.

[6] Ebd., S. 134.

[7] Jean-Luc Nancy, Der Eindringling, a.a.O., S. 15.